Friday, February 22, 2008

Manchester am Bosporus

Die Türkei feiert ihr »Wirtschaftswunder«. Vor allem der Werftsektor boomt. Arbeiter hingegen müssen für Hungerlöhne ihr Leben riskieren
Von Nico Sandfuchs, Ankara

Der türkische Schiffbau boomt. Wie die meisten anderen Sektoren der Wirtschaft konnten sich auch die Eigner der großen Werften, die fast alle in der südlich von Istanbul gelegenen Region Tuzla angesiedelt sind, in den vergangenen Jahren über satte Gewinne freuen. Allein die Exporterlöse der Branche verdreifachten sich zwischen 2004 und 2007 von rund 700 Millionen US-Dollar auf knapp zwei Milliarden Dollar jährlich. Die Erfolgsstory der Werftbosse ist bezeichnend für die Türkei, wo nahezu sämtliche Wirtschaftszweige seit Amtsantritt der gemäßigt-islamischen Regierung unter Ministerpräsident Tayyip Erdogan ähnliche Umsatzsteigerungen hinlegen konnten. Auch der Umstand, daß sich die zweistelligen Zuwächse der Schiffbauunternehmen in den Lohntüten der Werftarbeiter nicht widerspiegelt, ist typisch: Ähnlich sieht es bei ihren Kollegen im Textilsektor oder im Baugewerbe aus. Denn von dem vielbeschworenen »türkischen Wirtschaftswunder«, das die neoliberale Politik Erdogans dem Lande angeblich beschert hat, ist bei der werktätigen Bevölkerung bislang nichts angekommen. Tageslöhne von umgerechnet kaum 15 Euro, fehlende Sozialversicherung, Wochenarbeitszeiten von 60 Stunden und mehr, Lohnkürzung oder Kündigung im Krankheitsfalle – unter diesen Umständen wird die türkische Arbeitskraft billig gehalten und so das vermeintliche Wirtschaftswunder am Bosporus überhaupt erst ermöglicht.
Tödliche ArbeitsunfälleDie Arbeitsbedingungen beim Schiffbau sind sogar für türkische Verhältnisse derart kraß, daß sie inzwischen selbst in der einheimischen Boulevardpresse thematisiert werden. Denn nicht nur die Gewinne der Werfteigner haben sich in den letzten Jahren verdreifacht: Die Zahl der Arbeiter, die während der Maloche ums Leben kommen, ist von durchschnittlich fünf auf mindestens 20 pro Jahr in die Höhe geschnellt. Allein seit Anfang des Jahres starben in der Region Tuzla bereits vier Werftarbeiter bei Arbeitsunfällen. Für den Verband der Schiffbauer (GISBIR) tragen die Arbeiter allerdings selbst die Schuld an den Unfällen. »Wir treffen alle Vorkehrungen, aber die Arbeiter sind einfach viel zu nachlässig bei der Umsetzung«, behauptete kürzlich Verbandschef Kenan Torlak. »Es ist Pflicht, Handschuhe und Schutzhelm zu tragen. Aber manche halten diese Vorschrift nicht ein.« In den Ohren der Funktionäre der Gewerkschaft Limter-Is klingen die Worte der Werftbesitzer geradezu wie Hohn. Viele der verunglückten Arbeiter wurden von tonnenschweren Stahlteilen erschlagen oder stürzten von wackeligen Gerüsten mehrere Dutzend Meter in die Tiefe. Daß das Tragen von Handschuhen und Helm die Überlebenschancen bei dieser Art von Unfällen kaum wesentlich erhöht, dürfte auch den Werftbossen klar sein, meint der Gewerkschaftsvorsitzende Cem Dinc. In Wahrheit würden die Arbeitsunfälle bewußt in Kauf genommen. Die Auftragsbücher sind voll, das Arbeitstempo ist dementsprechend hoch, selbst einfache Arbeitsschutzvorkehrungen würden umgangen, weil sie zu einem Zeitverlust führten. So würde ganz bewußt eher der Tod eines Arbeiters in Kauf genommen als die Konventionalstrafe, die drohe, wenn ein Auftrag nicht pünktlich ausgeführt wird. Verschärfend komme noch hinzu, daß ein Großteil der Beschäftigten ungelernte Leiharbeiter seien, die von Arbeitsvermittlern vor allem in Südostanatolien, dem Armenhaus des Landes, für Hungerlöhne rekrutiert würden. Gerade einmal zehn Prozent der 24000 Werftarbeiter, die in der Region Tuzla ihr Brot verdienten, sind den Angaben von Limter-Is zufolge fest angestellt. Der Rest sind ungelernte Zeitarbeiter, die zumeist nie zuvor in der Branche gearbeitet haben. Eine Umgehung sämtlicher Sicherheitsstandards, völlig übermüdete Malocher, die statt der vorgeschriebenen 37,5 Wochenstunden selten weniger als 70 Stunden arbeiten, ungelerntes Personal – tödliche Unfälle sind unter diesen Bedingungen geradezu programmiert.Die Angaben der Gewerkschaft über die horrenden Arbeitsbedingungen werden auch durch eine Studie der Regierung bestätigt. Im April des vergangenen Jahres ließ das Arbeitsministerium 44 Werften auf die Einhaltung der Arbeitsschutzbestimmungen überprüfen. Mehr als 500 schwerwiegende Mängel traten dabei zutage. Grund genug für ein Eingreifen ist dies allerdings auch vor dem Hintergrund der gehäuften Todesfälle nicht – man will die boomende Industrie schließlich nicht bremsen.
Streik für mehr SicherheitDie Gewerkschaft Limter plant deshalb nun einen Streik, um zumindest die Einhaltung der Sicherheitsstandards und einen Einstellungsstopp für Leiharbeiter zu erreichen. Von Gesprächsbereitschaft ist auf seiten der Werftbesitzer derweil keine Spur. Arbeiter, die vergangenen Samstag protestiertenw, wurden statt dessen kurzerhand auf die Straße gesetzt. Das rigide Vorgehen gegen jede Form von gewerkschaftlicher Organisation und Widerstand hat bereits dafür gesorgt, daß gerade viele der Leiharbeiter, die keine festen Verträge haben, einem Streik skeptisch gegenüberstehen: »Die Bosse sitzen einfach am längeren Hebel. Denn wenn Ali nicht arbeitet, dann kommt eben Mehmet und arbeitet für ihn. Und wenn Mehmet nicht arbeitet, dann kommt Hasan. Wenn ich sage, ich setze mich für 15 Euro am Tag nicht länger diesen Bedingungen aus, dann kommt einer, der die gleiche Arbeit sogar für zehn Euro macht – weil er das Geld noch viel nötiger braucht als ich«, sagt ein Arbeiter. Arbeitskraft ist billig im Wirtschaftswunderland Türkei. Und Menschenleben sind es auch.

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